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Flüchtige Freude / Brief joy

23.09.2015 Deqin / China / N28°26’31.1“ E098°52’45.5“

Nah, ganz nah sind wir Tibet. Alles riecht danach. Alles sieht danach aus. Alles fühlt sich an wie Tibet. Die Kontrollposten scheinen das zu wissen. Gleich zu Zwanzigst stehen sie in und um ihr kleines Häuschen herum. Bewaffnet, dass nichts mehr geht. Gerader, ernster Blick. Der Finger am Abzug. Die rundherum aufgestapelten Sandsäcke sind aus Beton. Grün angestrichen. Aua. Es tut weh, dagegen zu schlagen. Wir werden registriert, weil wir uns Tibet annähern, so weit das mit unserem China Visum irgend möglich ist. Offiziell beschwert sich China darüber, dass die meisten ausländischen Besucher mit den Ideen der Tibeter sympathisieren. Und erlauben es ihnen deswegen nicht, sich allein in Tibet zu bewegen. Doch sie tun auch nicht wirklich viel gegen diesen Eindruck der machtvollen Besetzung. Ich glaube das Gefühl zu kennen. Diese Abschottung nach Innen. Damals, in der DDR, waren die Feinde ja offensichtlich auch im eigenen Land. Wenn ich daran denke, in welche Richtung der Stacheldraht an der Grenze gebogen war…

Dann geht es für uns in die Wolken. Wir fahren kilometerlang, stundenlang und schrauben uns weiter und weiter gen Himmel. Mit der Zunge kann ich von den Wolken kosten. Mit den Fingern kann ich sie anstupsen, wenn ich es denn schaffe eine meiner Hände aus der Verkrampfung zu lösen. So unglaublich dicht entlang geht unser Weg am ungesicherten Abgrund. Einem Geländewagenfahrer ist der erst heute wieder zum Verhängnis geworden. Die Nebelwand ist wie ein Vorhang im Theater. Manchmal halbtransparent, als dramaturgisches Moment. Als könne ich die geheimen Gedanken der direkt vor mir stehenden Akteure quasi im Nebel lesen und sehen. Dann wieder ist der Wolkenvorgang vollkommen dicht, so dass für mich nur das wahrnehmbar ist, was der Nebel bereit ist, meinen Augen frei zu geben. Es gibt immer eine Welt dahinter. Hinter jedem Satz und jedem Handeln. Sichtbar oder unsichtbar. Gedacht oder empfunden. Unbewusst zeigen wir mitunter Seiten von uns, die wir meinen verbergen zu wollen. Das Nebelszenario in den Wolken ist für mich eine grandios gelungene Inszenierung genau dieses Themas. Ein Spiel mit Ahnungen, Offenbarungen und Täuschung. Wir sehen, was wir sehen können, weil wir es verstehen. Alles andere bleibt uns verborgen.

Auf Viertausendvierhundert Metern Höhe ist das Spektakel heute angesetzt. Höhenluft berauscht unsere Empfindungen, umrahmt von tausenden lustig bunt im Nebel schwebenden Gebetsfähnchen. Was für eine Kulisse! Die Farben der Fahnen mischen sich mit dem Bunt des Laubes. Hey, heute ist bei uns Herbst! „Vielleicht einer der einzigen herbstbunten Tage, die wir in diesem Jahr erleben werden?“, rauscht es mir durchs Hirn.

Später im Tal, noch immer dreitausendfünfhundert Meter hoch, geht das Schauspiel weiter. Wir sind in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Deqin. Sie ist die letzte Bastion der Chinesen vor dem Übertritt nach Tibet. Militär soll reichlich stationiert sein in diesem, einst verschlafen in einem Bergwinkel liegenden, Ort. Die Atmosphäre zieht uns nicht wirklich an. Also rollen wir weiter. Und machen erst Halt, als wir meinen uns wohler zu fühlen. Ein kleiner Tempel lacht uns entgegen. Kerzen stellen wir auf. Momente der Einkehr bei uns selbst. Die Landschaft um uns herum ist eine Offenbarung. So schön, so geheimnisvoll, so vergänglich die Bilder, die von den vorbei ziehenden Wolken frei gegeben werden. Es ist als verstehe ich in diesen Augenblicken das chinesische Wort „kuai le“ auf neue Art. Es bedeutet „Glück“ und steht für „die flüchtige Freude“.

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