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Wo der Tiger sprang / Tiger leaping gorge

20.09.2015 Deqen / China / N27°15’16.9“ E100°09’26.9“

Sechstausenddreihundert Kilometer ist er lang. Im Südwesten Chinas entspringt er als kleiner Gebirgsbach. Fließt durch Tibet und sieben Provinzen des Landes. Auf seinem Weg begegnet er Hunderten von Nebenflüssen, deren Wasser er einkassiert und mit sich nimmt, bevor er nördlich von Shanghai in das Ostchinesische Meer mündet. Sechstausenddreihundert Kilometer mitreißende Gewalt, kaum bezwingbare Power, und Mächtigkeit, die einschüchtert. Ich stehe in der dreitausendneunhundert Meter tiefen Schlucht des „Jangtse-Rivers“. Rechts und links von mir ragen steile Felswände in den Himmel, als wollten sie dem Fluss ein überdimensionales Schloss erbauen. Doch der Baumeister war das Wasser selbst. Es grub und gräbt sich tiefer und tiefer. Schneidet eine Schneise zwischen die Berge, dem Wasserstrahlschneiden gleich. Lilian, Andi, Sten und ich stehen vor den Wassermassen, die zu kochen scheinen. Aufgeregtheit, Aggressivität und Ungestüm spritzt zu uns herüber. Ich kann nur lachen, wenn ich an Maos Ansinnen denke, der sich in den Jahren seiner Macht zum Ziel gesetzt hatte, die Natur zu bezwingen. Alles hat er daran gesetzt, die Volksmassen dazu angestachelt und gezwungen. Doch eines ist mir sonnenklar. Die Natur duldet uns allenfalls. Bezwingen lässt sie sich nicht.
Ein Meisterstück an Überzeugungskraft zeigt sie uns in der Schlucht, von der erzählt wird, dass einst ein Tiger darüber gesprungen sein soll. Hier am Beginn des Tibetischen Hochlandes. Hier an den Ausläufern, die zum Himalaja führen. „Beginn“, „Ausläufer“, klingt wie „seichte Sommerwiese“. Doch umgeben sind wir von fünftausendfünfhundert Meter hohen Bergkuppen. Die alles andere sein wollen als „Ausläufer“ und das auch selbstbewusst zur Schau stellen.
Die Straße windet sich an den Berghängen entlang. Oft ist sie unterbrochen von Steinwürfen und ganzen Halden an Geröll. Welches sich wie süßer Brei vom Berg her ergießt. Langsam nehmen wir mit unserem Leo Kurve für Kurve. Ich halte meinen Blick streng nach vorn gerichtet. Sobald mir das Missgeschick unterläuft und ich nach rechts, zum Abgrund schaue, wird mir schwindelig und schlecht. Absperrungen gibt’s hier keine. Man ist froh, dem Berg überhaupt einen einigermaßen waagerechten Weg abgerungen zu haben. Da bleibt kein Platz für Haltepfosten. Wo die Straße seitlich endet, beginnt augenblicklich der senkrechte Fall in die Tiefe. In Europa und Amerika wird immer mal von spektakulären Straßen gesprochen, die dann angepriesen und in aller Munde sind. Hier, im dicken Bauch Chinas, hält das kaum einer für der Rede wert. Hier gibt es Straßen, die in Europa die Marketingtrommel aber mal so richtig ins Drehen bringen würden. Mit allem Tamtam und fetten Aktionen. Hier gibt es dafür nicht mal Hinweisschilder, geschweige denn eine Karte über das Gebiet für Guido und Jamie. Unsere beiden Holländer haben sich aufgemacht, den „Sky walk“ zu nehmen. In schwindelige Höhen windet sich der Weg bergaufwärts. Serpentine für Serpentine. Meine Knie haben schon gestreikt allein beim Anblick der Höhenlinie. So habe ich beschlossen, reif genug zu sein und auch mal „Nein“ zu sagen zu dieser „ultimativen Bergtour der Welt“ und kleinere Runden zu drehen.
Das Tosen und Krachen, das, alles in Erregung bringende stürmische Lärmen, begleitet uns in den Abend und verstärkt sich in meinen Ohren, als die Dunkelheit sich mit dem meterhoch spritzenden Wasser vereint. Schwarzes Toben ist meine Einschlafmusik, am Hang der „Tigersprungschlucht“ ohne Tiger.
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